Zwei Lords im Wunderland

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

„Was für ein Fressgelage“, stöhnte Lord Adley und lehnte sich gegen die Rückenstütze. „Ich kann keinen weiteren Bissen vertragen.“
„Fürwahr“, murmelte Lord Hornsby heiser. „Die Aussaat scheint dieses Jahr ertragreich gewesen zu sein.“
Kurz herrschte Schweigen zwischen den beiden Herren, ehe Lord Adley sich wohlig grunzend erhob. „Nun denn, teurer Freund, ziehen wir uns ins Kaminzimmer zurück.“
Mit einem zustimmenden Geräusch griff sich der Kamerad die Fackel und folgte ihm durch den Flur, der mit Jagdtrophäen und antiken Möbeln überfüllt war. Lord Hornsby wich einem umgekippten Sekretär sowie herumrollenden Kristallkugeln aus, dabei stolperte er nahezu über einen dreibeinigen Stuhl. „Na holla, hier sollte mal aufgeräumt werden.“
„Was soll’s, wir wohnen im Wunderland“, gluckste Lord Adley und stieß die Tür zum Kaminzimmer auf. „Würde ich aufräumen, müsste ich bloß irgendwo Milbenfutter kaufen. Im ganzen Staub kommen die kleinen allein zurecht.“
„Hm“, brummte Lord Hornsby, offenbar wenig überzeugt von der Argumentation. Er schlenderte zum Kamin und warf die Fackel auf das bereits aufgeschichtete Holz. Einige Rauchschwaden quollen in den Raum, was Lord Hornsby zum Husten brachte. „Werter Freund“, keuchte er, „hast du den Kaminfeger vergrault?“
Lord Adley schüttelte den Kopf. „Nein, der letzte Drache hat allesamt gefressen. Ist danach am Ruß gestorben, das dumme Untier. Kaminfeger gibt es im ganzen Reich keine mehr.“
„Tja“, seufzte Lord Hornsby und wedelte entnervt mit der Hand herum, bis sich der Rauch verzog. „Das Wunderland ist nicht mehr, was es einst war.“
„Wahre Worte, wahre Worte.“ Lord Adley kramte seine Pfeife aus einem Kästchen auf dem Tisch und stopfte sie. „Zumindest haben wir noch Feenstaub, damit ist alles erträglich.“ Er schüttete eine Prise des Pulvers in seine Pfeife und steckte sie an.
„Ja, die Wirtschaftslage zwingt die Trolle zwar, unter Brücken zu hausen, der Schwarzmarkt für getrocknete Feen floriert dafür. Zudem ernären uns unsere Gärten bestens.“
„Fürwahr.“ Nickend nahm er einen tiefen Zug der leichten Droge. „Hach, das schöne Leben. Kein Wunder, nennen wir die Gegend Wunderland.“
„Naja“, greinte Lord Hornsby und nahm seinerseits die Pfeife hervor, um sich ebenfalls etwas Feenstaub zu gönnen. „Wahrscheinlich.“
„Woher die Zweifel?“, erkundigte sich Lord Adley. „Du bist doch stets ein Patriot gewesen?“ Die skeptischen Reden seines Freundes war er sich gewohnt, verstanden hatte er sie dennoch nie.
„Seit die Schönheitskönigin unseres Reiches nicht zur Königin sondern zur Wolfsmahlzeit wurde, ist das Überleben des Hochadels in diesen Gefilden durchaus fragwürdig. Nicht mal eine eigene Regentschaft haben wir.“
„Wölfe müssen fressen und Skelette können schlecht regieren“, gab Lord Adley mit einem fatalistischen Schulterzucken zurück. „Du steckst mich mit deiner Schwarzmalerei nicht an.“
Lord Hornsby sah auf die Landschaft, wo er an den fernen, mondbeschienenen Berge große Feuer ausmachen konnte. „Die Zwerge sind wieder am brandroden“, bemerkte er. „Vermutlich brauchen sie Platz für die Schwerindustrie.“
„Jeden Winter hat das neue Erdrutsche zur Folge. Auch eine Sorge des Reiches“, pflichtete Lord Adley bei, inhalierte den letzten Zug seiner Feenstaub-Pfeife und legte sie beiseite. „Wir gehen vielleicht unter. Würdevoll, versteht sich.“
„Was, wenn das Wunderland gar nicht wundervoll ist?“ Lord Hornsby starrte fasziniert auf die im Kamin tanzenden Flammen. „Was, wenn es anderswo besser ist und Herrenhäuser noch von Magie sauber gehalten werden?“
Lord Adley erschauderte. Der Gedanke seines Kameraden war überaus blasphemisch, schließlich lebten sie im Wunderland! „Das … ist unmöglich.“
„Wer sagt das? Die Bücher, die vom Königreich verteilt wurden, bevor es unterging? Bis wir einen Boten über die Grenze schicken, werden wir unmöglich erfahren, ob es wirklich so ist.“ Er legte eine rhetorische Pause ein, ehe er das Offensichtliche ergänzte: „Man darf keine Boten an die Grenze entsenden, das wird seine Gründe haben.“
„Ohne Königshaus wird sich niemand darum kümmern“, wandte Lord Adley ein. „Wir haben ja genug zu essen und Feenstaub für unsere Pfeifen, was schert es uns?“
„Och“, klönte Lord Hornsby. „Woher wissen wir, dass da draußen nichts Besseres auf uns wartet? Angeblich soll an der Westgrenze das Schlaraffenland liegen, wo es ertragreichere Gärten und Feenstaub in Hülle und Fülle gibt. Die Mythen können wir nur bestätigen oder dementieren, wenn wir dahin reisen.“
„Liegen wir falsch und kehren wieder, ist unsere Villa garantiert von Trollen besetzt“, gab Lord Adley zu bedenken. „Erinnerst du dich an die Zeiten, als wir je ein Herrenhaus hatten?“
Lord Hornsby stand auf, trat zum Fenster und schaute auf die entfernten Ruinen des Anwesens, das er früher sein Eigen genannt hatte. „Ich weiß. Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“
„Das sagst du seit Jahren, aufgebrochen bist du trotzdem nie. Du bist geblieben, sogar, als die weiße Magie durch schwarze ersetzt wurde, sich all unsere Butler in Dampf auflösten, die Orks zu wandelnden Untoten wurden, der Vulkan nach Drachenpupsen roch …“
„Ich gehe niemals ohne meinen besten Freund, Gesellschaft ist wichtig“, unterbrach Lord Hornsby die Aufzählung. „Und so lange es dir im Wunderland gefällt, werde auch ich bleiben.“
Es dauerte einige Minuten, bis sich Lord Adley zu einer Antwort durchrang. „Nun denn, Gesellschaft ist in der Tat wichtig. Und was wäre ich für ein Freund, wollte ich einen alten Kameraden nicht auf seiner Reise begleiten?“

Autorin: Sarah
Setting: Wunderland
Clues: Fressgelage, Aussaat, Kaminfeger, Milbenfutter, Schönheitskönigin
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