Der wahre Grund, weshalb die Welt Montage hasst

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Fritz Krüger hasste Montage – er hasste sie in jedem erdenklichen Sinne. Insbesondere an Montagen hasste er es, auf Montage zu gehen. Früher war dem nicht so gewesen, doch mit jedem Jahr, das ins Land zog, wurden seine Rückenprobleme schmerzhafter und er sehnte seiner Pensionierung entgegen, ein alter Haudegen wie er hatte sich den Ruhestand mehr als nur verdient. So war seine Motivation auch an diesem regnerischen Montagmorgen merklich eingeschränkt, während er in den Büroturm schlurfte, in dem das oberste Stockwerk umgebaut wurde. Der müde Handwerker quetschte sich zusammen mit den Geschäftsleuten in die chromstählernen Aufzugskabinen und Fritz überlegte, während er die Taste mit der eingravierten Nummer 45 drückte, wie grauenhaft dieser Tag werden musste. Wahrscheinlich war es wieder eine kaum enden wollende Kaskade aus Erinnerungen daran, wie das Wochenende, dieser willkommene Vorgeschmack auf die Pensionierung, gewesen war. Stockwerk für Stockwerk leerte sich die Kabine, bis er ganz alleine dastand und die letzten zwei Geschoße begleitet von dem monotonen Summen des Lifts zurücklegte.

Franziska Müller seufzte entnervt und versuchte, das Brennen in ihren Augen wegzublinzeln. Die Schlaflosigkeit fand sie verglichen mit der Übermüdung am nächsten Tag noch okay. Der Preis der ganzen Angelegenheit bezahlte sie aber letztendlich in verminderter Produktivität, sodass sie am Ende wieder länger im Büro zu bleiben hatte. Montage waren am schlimmsten, denn ihr Körper erinnerte sich ans Wochenende, wo er ausnahmsweise genügend Schlaf bekommen hatte. Doch damit nicht genug, nein! Dazu kam der unerträgliche Geräuschpegel von der Baustelle im Stockwerk über ihr, der ihre Gehörgänge marterte und sie fragte sich, wie viele Wochen diese Qualen noch andauern sollten. Niemand sollte neben einer Baustelle arbeiten müssen, soviel war klar! Selbstverständlich wusste die Versicherungsangestellte, dass so etwas kaum umzusetzen wäre, aber ein Teil von ihr wollte sich schreiend auf dem Boden wälzen, in einem Anfall aus Trotz liegenbleiben, bis die Bauarbeiter verschwanden. Montage waren einfach nur scheiße, Punktum und Schluss!

Fernando Oberhausen war der Typ Mensch, der sich selten beschwerte – außer an Montagen, an denen der Verkehr im Geschäftsbezirk war mühsamer war als an jedem anderen Tag. Der junge Essenskurier, der ganze Menüs von Restaurants in Büros lieferte, wollte schnell sein, denn seine Geschwindigkeit hatte Einfluss auf das Trinkgeld. Heute hatte sich auch wirklich alles gegen ihn verschworen. Ein Kleinlaster, auf dem eine große Werbung für ein bekanntes Mineralwasser prangte, schnitt ihm den Weg ab und Fernando konnte sein Moped keine Sekunde zu früh zum Stehen bringen. „Scheiße, Alda, willste wat in die Fresse?!“, rief er, aber der Fahrer hatte ihn grinsend ignoriert und tuckerte gemächlich weiter. Fernando musste im nächsten Moment trocken lachen, da er sich seit seinem Schulabschluss kaum mehr gewohnt war, so zu sprechen. Wendig stieß er seinen Fuß von der Bordsteinkante ab, zischte „Yippee ki-yay, Motherfucker“ und beschleunigte sein kleines Gefährt, geradeswegs auf den gläsernen Büroturm zu, der am Ende der Allee stand.

Fritz Krüger war froh, endlich seine Mittagspause genießen zu können. Schon konnte er den vertrauten Trott der Woche fühlen, aber der Morgen hatte sich so quälend lang hingezogen, dass er sich am liebsten krank gestellt hätte. Aber nicht er, nein! Egal wie demotiviert er gerade sein mochte, er war Fritz Krüger, der pflichtbewusste Handwerker, der nie zu spät kam, der alles so perfekt wie irgend möglich erledigte. Müde starrte er auf die glänzende Aufzugstür, in der sich eine der auf dem Boden liegenden Leuchtstoffröhren verzerrt spiegelte und trommelte mit den Fingern gegen seinen Oberschenkel. Ein lautes „Ding!“, das gruselig durch das entkernte Stockwerk hallte, kündigte die Ankunft des Aufzugs an. Mit dem ersten freudigen Gesichtsausdruck des Tages trat Fritz in die Kabine und steckte den Schlüssel, damit der Aufzug ohne Halt in den Keller fahren würde. Während die Türen beinahe geräuschlos zuglitten, eine willkommene Abwechslung zum Lärm der Pressluftbohrer und Kreissägen, dachte der Handwerkermeister an seine einzige Schwäche, der er jeder Mittagspause frönte. Seine raue Hand glitt in die Hosentasche und zog das zerknitterte Zigarettenpäckchen heraus. Gleich wäre der Aufzug im Keller! Die Vorfreude zauberte ihm ein Lächeln aufs Gesicht. Natürlich könnte er draußen rauchen, doch das Risiko war zu hoch, dass seine Frau vorbeikam, dann hätte er sich eine Standpauke anhören können. Nein, sein Glück wollte er nicht herausfordern! Er steckte die Kippe in den Mund, und zündete das Feuerzeug in dem Augenblick an, in dem die Türen sich öffneten. Ein Wimpernschlag zu früh, er hätte keine Gelegenheit mehr gehabt, das Gasleck riechen zu können.

Franziska Müller klappte das Dossier zu, ließ es über den Tisch auf ihren „Zu erledigen“-Stapel schliddern und lehnte sich zurück. Mittagspause, diese war zweifellos wohlverdient! Jetzt sollte endlich der vermaledeite Kurier mit ihrem Lunch auftauchen, das konnte niemals so lange dauern?! Seit Jahren bestellte sie sich jeden Montag eine Lasagne ins Büro, als Hommage an die berühmte orange Katze. Doch heute ließ sich der verdammte Kerl echt zu viel Zeit, dachte sich Franziska genervt und erhob sich ruckartig. Wahrscheinlich steckte er mal wieder im Verkehr fest. Entschlossen machte sie sich auf den Weg zur Lobby, um ihr Essen gleich unten in Empfang zu nehmen. Vielleicht konnte sie sich so einige Minuten sparen, denn dieser Scheißtag würde schon so lange genug dauern – Pendenzen soweit das Auge reichte. Der Aufzug kam rasch, sie trat ein und überlegte sich insgeheim, ob es auf dieser Welt eine einzige Person gab, die Montage nicht mit jeder Faser hasste.
Nach kurzer Fahrt verließ sie die nach Deodorant riechende Kabine in die lichtdurchflutete Lobby. Sie ging einige Schritte auf die großen Glastüren zu, dann konnte sie ihn erkennen, den Lieferboten vom „Hunger-Blitz“, wie er atemlos auf die Halle zugejoggt kam. Lunch: Das Highlight des Tages! Sie holte dazu aus, laut „Lasagne!“ zu rufen, das ganze Büro kannte ihre Vorliebe längst. Der Gedanke an die Köstlichkeit zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht, sie schien zu schweben … Franziska blieben einige Hundertstelessekunden, um zu begreifen, dass sich die quadratmetergroßen, marmornen Bodenplatten anhoben und sie auf einer surfend hochgeschleudert wurde.

Fernando Oberhausen hielt vor dem großen Büroturm an, stellte sein Moped ab und kramte hektisch den richtigen Behälter aus der Box, die anstelle eines Gepäckträgers auf seinem Gefährt montiert war. Lasagne für Frau Müller, die einzige Lieferung an diese Adresse. Ein rascher Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er schon zehn Minuten hinter der Zeit lag, also so hechtete er, den Behälter in der Hand über die hexagonalen, hellgrauen Fliesen, vorbei an den jungen Birken und anthrazitfarbenen Lichtmasten die Stufen hoch. Noch zehn Meter, dann hätte er die grünlich schimmernde Glastür erreicht. Er konnte die Spiegelung der Sonne erkennen, deren Strahlen eben durch die Wolken brachen, was ein wunderbares Lichtschauspiel bot. Der erste zweifellos schöne Moment an diesem vermaledeiten Montag, an dem nun wirklich nichts gelingen wollte. Fernando genoss ihn, so gut er konnte, dann war er an der Glastür angelangt. Er konnte Frau Müller bereits erkennen, die ihm mit einem zufriedenen Grinsen auf dem Gesicht entgegenkam. Na, wenigstens eine, die einen guten Tag hat, dachte er sich amüsiert. Er setzte gerade dazu an, die Lobby zu betreten, als das Undenkbare geschah. Der Boden in der Halle hob sich, die folgende Druckwelle ließ das Glas vor ihm in tausende Splitter bersten, bevor sie den Kurier erreichte und ihn wegfegte.

Frank Neuthaler brauchte nicht lange, um die Situation zu überblicken. Der erfahrene Feuerwehrhauptmann konnte die Verwüstung schon erkennen, bevor er aus dem Einsatzwagen sprang und die ersten Befehle brüllte. Ein junger Mann hing in einer der dafür viel zu schwach wirkenden Birken, mehrere Meter über dem Boden und starrte ihn mit leblosen Augen an. Das in kleine Stückchen zerborstene Sicherheitsglas hatte ihn wie Schrapnell erwischt, sein weißes „Hunger-Blitz“-Shirt war von unzähligen Blutflecken bedeckt. Hier kam jede Hilfe zu spät, also weiter, entscheid sich Frank hastig. Dem Büroturm fehlte in den untersten zwei Stockwerken die Fassade gänzlich. Schwarzer Rauch quoll aus der Lobby, erschwerte die Sicht und Stahlträger waren so verbogen, als seien sie die Schale einer halb geschälten Banane. Glasscherben, Metallstücke, Büromöbel, Fetzen von Zimmerpflanzen, Papiere, Blut und anderes Zeugs – Frank musste aufpassen, bei seinem Weg zum Eingang nicht über etwas zu stolpern. „Scheiße, das sieht ja aus als wäre eine Bombe eingeschlagen“, murmelte der junge Feuerwehrmann neben ihm. Frank beschloss, sich nichts anmerken zu lassen, darüber konnte er auch zuhause nachdenken, jetzt brauchte er seine volle Konzentration.
Zwei Sanitäter trugen eben eine Frau in mittleren Jahren auf einer Bahre aus dem schwelenden Gebäude. Auf seiner Höhe angekommen, schlug sie die Lider auf, sah ihm direkt in die Augen und murmelte mit kratziger Stimme: „Scheißmontage.“ Dann verlor sie wieder das Bewusstsein.
Während Frank in die Lobby, oder besser, das was davon übrig war, schritt und sein solides Schuhwerk über die Trümmer knirschte, frage er sich, ob an der Sache etwas dran war. Tatsächlich geschahen an Montagen mehr Unfälle, das hatte er mal gelesen. Als Feuerwehrhauptmann müsste er es eigentlich aus erster Erfahrung wissen, schließlich war er derjenige, welcher danach jeweils das Chaos vorfand, doch er hatte sich noch nie auf die Tage geachtet. Nur die Vollmondlegenden kannte er, aber Wochentage, nun ja, seine Arbeitszeiten waren unregelmäßig … Vielleicht hatte die Frau, die eben mit Blaulicht davongekarrt wurde, ja Recht gehabt und Montage waren scheiße. Frank würde auch jeden Tag hassen, an dem er Gefahr lief, von einer großen Explosion in Stücke gerissen zu werden.

Autorin: Sarah
Titelvorgabe: Der wahre Grund, weshalb die Welt Montage hasst
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6 Gedanken zu „Der wahre Grund, weshalb die Welt Montage hasst“

  1. Ich habe die Geschichte bis zu Ende gelesen. Sie ist hervorragend und mitreißend geschrieben, ohne aufdringlich zu sein. Mann kann sich hineinfühlen in jeden einzelnen Protagonisten und dann diese verdammte Explosion. Hilfe hatte ich Gänsehaut.
    Lg ~Dark Raven

    1. Hallo Dark Raven,

      Ich freue mich sehr über dein positives Feedback und darüber, dass dir die Geschichte gefallen hat! Mit Gänsehaut-Faktor hätte ich gar nicht gerechnet, das ist ja megalotastisch! :)

      Für die Clue Writer verneigt sich und grüsst,
      Sarah

    2. Ja ich denke es kommt ganz auf die eigene Stimmung an wie man diese Geschichte auffassen kann. Ich finde sie sehr gelungen und man könnte sogar eine längere daraus machen. Da ich ja selbst schreibe, weiß ich wovon ich rede.
      Glg ~Dark Raven

    3. Hallo Dark Raven,

      Manchmal gelingt es einem gut, eine Stimmung zu transportieren, das hat tatsächlich was. :)
      Eine längere Story daraus zu machen, wäre eine Option, ist aber momentan nicht in Planung, weil ja doch jede Woche eine neue Geschichte und eine neue Podcast-Episode kommen müssen und ich nebenher noch an zweieinhalb Buchprojekten sitze^^ Es ist aber definitiv eine von denen Stories, bei welchen man es im Hinterkopf behalten kann…

      Mit lieben Grüssen und den besten Wünschen
      Sarah

    4. Oh Buchprojekte klingt gut. Ich selbst bin auch schon dabei. Aber so etwas macht viel Arbeit und ich schreibe meist an mehreren Sachen parallel. Das habe ich mir angeeignet und es funktioniert ganz gut. Ich habe einfach zu viele Ideen und die müssen raus aus meinem Kopf! ^^
      Glg ~Dark Raven :-D

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