Gewitter

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

„Angenehm, wie es abgekühlt hat. Später soll es gewittern.“ Suvik seufzte schwärmerisch, blieb stehen, um die Röhrenblüte einer Sonnenblume zu inspizieren und blinzelte mehrfach. Irgendwie machten ihm seine Augen heute zu schaffen, wahrscheinlich war es der Blütenstaub oder Schlafmangel.
„Ja, die ersten Wolken sind schon nahe.“ Seine Frau deutete auf die in gelblich-grauem Licht schimmernde Bergkette und zupfte ihre Bluse zurecht. „Dem Boden wird ein ordentlicher Schauer bestimmt guttun, so trocken wie es diesen Sommer ist.“
Es war einer dieser Tage, die er stets in guter Erinnerung behalten wird, an denen man sich Zeit für die angenehmen Dinge der Welt nehmen konnte. Er strich mit den Fingerkuppen über den Stängel der Pflanze, bevor er sich abwandte und mit zügigen Schritten zu seiner Frau aufholte. „Atemberaubend.“
„Ja. Wir sollten öfters spazieren“, stimmte ihm Rangani strahlend zu. „Vielleicht leiht uns Ira den Kleinen ab und an.“
„Das wäre was.“ Schmunzelnd betrachtete Suvik seinen Enkel, der im Kinderwagen die friedliche Szenerie verschlief. Sie genossen die gemeinsame Freizeit, hatten den Eindruck, sich unter der Woche meistens im Flur zu verpassen und das, obwohl sie im selben Hotel arbeiteten. Er hielt als Abwart die alternde Bude in Schuss und sie setzte sich beim Frühstücksbuffet dafür ein, dass die Gäste sich rundum wohlfühlten. Ein Luftzug kam auf, die Feldmäuse zogen sich bereits in ihre Löcher zurück. „Du. Wegen unserer Ferienkasse …“, holte er leicht nervös aus und tänzelte neben seiner Liebsten her. Die Ferienkasse war weit mehr als nur ein Sammelbecken für Urlaubsgeld, sie war ihr Fahrtschein nach Hause. Sie beide hatten ihre Familien bald eine Dekade lang nicht gesehen und gerade Rangani plagte das Heimweh nach ihrer Mutter. Leider hatten sie immer wieder in den Topf greifen müssen, um Notwendigkeiten des Lebens zu bezahlen. Mal musste das Auto in die Werkstatt, mal musste die Deckenverkleidung ausgetauscht werden oder Ira benötigte eine Zahnspange. Aber dieses Mal war es anders, Suviks Idee würde allen Freude bereiten. „Ich, ähm, habe überlegt, wie wäre es, Ira von dem Geld den Aquafit-Kurs zu schenken, den sie sich wünscht. Sie hat bald Geburtstag, deswegen …“
„Ach, Suvik“ Er war ein guter Mann, einer, der es am liebsten allen rechtmachen wollte, selbst wenn das bedeutete, dass er zurückstecken musste. So schwierig es manchmal war, eine Balance zwischen Ranganis und Iras Bedürfnissen zu finden, er tat es gerne und seine Frau wusste das. Es war einer von vielen Gründen, weshalb sie ihren Brummbären über alles liebte. „Du sollst sie doch nicht verwöhnen“, ächzte sie und sah sich ihren Enkel an. „Wobei“, unterbrach sie sich, als es ihr dämmerte, worauf er hinaus wollte. Sie hielt inne, klatschte dann fröhlich. „Während sie im Kurs ist, können wir den Pupser hüten!“ Behutsam zog sie die Babydecke über den kleinen Menschen, dieser Sommerabend war eine Kostprobe des Herbsts.
„Ja, jede Woche“, bestätigte er lächelnd, nahm ihre Hand und zog sie etwas zu sich. Ihre Ehe hatte auf eine Weise begonnen, die hier keineswegs üblich war. Zuerst war es der Pragmatismus, bald darauf die Not gewesen, die sie zusammen und in ein anderes Land brachte. Ja, ihre Liebe war nach der Hochzeit gewachsen, dafür unaufhaltsam, Jahr für Jahr, mit jeder gemeinsamen Minute und für Rangani und Suvik hätte das Leben nichts schöneres für sie bereithalten können.
„Hm“, brummte Rangani, verträumt den Bauch des Kleinkinds berührend. „Wie viel kostet der Kurs denn?“ Der Feldweg führte an einem stattlichen Bauernhof vorbei, davor lag ein makelloser Garten, dahinter grasten balgten sich einige Kälber neben dem Misthaufen. Das Dorf war ein Idyll, der Ort, der ganz und gar zu ihrem Zuhause geworden war.
„Sechshundert Halsbänder“, erwiderte Suvik mit leicht verzerrter Miene, lachte und versuchte es erneut: „Sechshundert Kerzenständer.“ Sie näherten sich der Allee, die Pappeln bogen sich rhythmisch im Wind, schienen das Gewitter herbeizuschwören.
Rangani kicherte und gab dem Kinderwagen einen sanften Schubser, ehe sie wieder gemächlich in Richtung Dorfzentrum schlenderten. Suvik war ein lieber Kerl, durch und durch, allerdings ebenso von Sorge und Ernsthaftigkeit zerfressen. Daher freute es sie, wenn er zwischendurch ein wenig Frohmut blicken ließ, egal wie schlecht seine Witze waren.
„Ja, ja“, feixte sie. „Sechshundert Kerzenständer also.“
„Sechs…“ Er verschluckte sich, hustete belegt und grunzte anschließend genervt: „Rollkoffer!“
„Aha, Rollkoffer“, gluckste sie noch heiterer als zuvor, ohne sich nach Suvik umzuschauen, der sich mit den Händen über die Backen fuhr. Seine linke Wange und die Mundwinkel prickelten, es fiel ihm schwer, die Arme oben zu halten und sein Kopf schmerzte so sehr, wie niemals zuvor.
„Schilf“, lallte er schief grinsend, als wäre seine Zunge angeschwollen. „Schilf!“ Mit klammen Fingern packte er Rangani an der Schulter, seine Nüstern weiteten sich und er keuchte unregelmäßig. „Schilf, nein! Ne… Ne…in. Sch…“
„Suvik?“, fragte sie, hinter ihr funkelte das Wetterleuchten in Sepiabeige. „Suvik, alles in Ordnung?“ Er hatte seine schweißnasse Stirn in Falten gelegt, stierte sie regelrecht panisch an, sein linkes Augenlid hing unnatürlich hinunter. Da entglitten ihm seine Züge.
„Schilf“, tönte er verzweifelt. „Schil …“ Er kam ins Taumeln. „Sch…“ Rangani ließ den Kinderwagen los und stemmte sich gegen ihren Ehemann, der über sie gebeugt in die Knie ging.
„Suvik!“, schrie sie und fummelte hektisch an seinem T-Shirt. „Suvik!“ Dieser griff schlaff nach seiner Hosentasche, fischte sein Handy heraus und stammelte „Schi-lf“, als der erste Donner über die Landschaft hallte.

Autorin: Rahel
Setting: Feldweg
Clues: Kerzenständer, Deckenverkleidung, Pupser, Rollkoffer, Misthaufen
Werte Leser
In dieser Geschichte erleidet ein Protagonist einen Schlaganfall. Zu den typischen Symptomen gehören Seh-, Sprach- und Verständnisstörungen, Taubheitsgefühle, Schwindel mit Gangunsicherheit, Lähmung sowie starke Kopfschmerzen. Im Ernstfall ist schnelles Handeln unbedingt notwendig, der Rettungsdienst muss so rasch wie möglich benachrichtig und die betroffene Person betreut werden. Informiert euch auf der Seite der Deutschen Schlaganfall Hilfe und seid im Notfall vorbereitet.
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