Hoffe auf das Beste, aber bereite dich auf das Schlimmste vor | Der Jeep

Dies ist der 9. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Hoffe auf das Beste, aber bereite dich auf das Schlimmste vor“.

Ein rascher Blick auf den Zähler verriet Tess, dass sie bald vierzig Kilometer geschafft hatten. Nach dem Massaker auf dem Feld war Rooster mit der Absicht losgezogen, irgendwo einen fahrbaren Untersatz zu finden. Er hatte mehr Glück gehabt, als erwartet, denn schon beim nächsten Bauernhof entdeckte er einen Jeep Grand Cherokee sowie die Schlüssel dazu.
„Wer zum Teufel“, durchbrach Tess die schwere Stille im Fahrzeug, „hat solche Monsterautos gefahren?“ Sie konnte sich nur schwer vorstellen, welchen Zweck ein so lächerlich großes Gefährt erfüllen mochte, außer dem Fahrer sozialen Status vorzugaukeln.
„Meistens Farmer, die irgendwelches Zeug in unwegsamem Gelände transportieren mussten“, erklärte Rooster lakonisch und zerstörte damit jede Möglichkeit für Tess, sich über Menschen mit schwachem Selbstwertgefühl lustig zu machen. Nicht, dass sie das unbedingt wollte, aber derzeit war ihr alles recht, um dieses allesverzehrende Schweigen zu beenden.
„Ah“, machte sie etwas mutlos, ehe ihr etwas einfiel. „War es denn schwierig, ihn zum Laufen zu bringen?“
„Nein, die Batterie hatte noch etwas Saft“, begann der Hüne im gelangweilten Tonfall. Es war klar, dass ihn das Thema nicht interessierte, aber womöglich war auch er froh darum, sich unterhalten zu können. „Schwierig wird es erst dann, wenn sich das Benzin aufspaltet.“
„Wie meinst du das?“, mischte sich nun auch Clint ein und sofort gefror die Stimmung. „Kann Benzin wirklich schlecht werden?“
Tess registrierte, wie Rooster prüfend in ihre Richtung schielte, vermutlich wollte er ihre Reaktion abwarten, bevor er mit Clint sprach. Es machte Sinn, immerhin war sie diejenige unter ihnen, die den jungen Mann am besten kannte, trotzdem hätte sie die Entscheidung, wie fortan mit ihm umzugehen war, lieber jemand anderem überlassen.
„Ja, die flüchtigen Bestandteile können vaporisieren“, erläuterte der Professor und Tess seufzte kaum hörbar. Er hatte ihr gerade den Schiedsspruch abgenommen und ein Exempel statuiert; mit Clint durfte wieder geplaudert werden, anstelle davon, ihn lediglich nach der noch immer nicht geklärten Herkunft seiner AK-47 auszufragen. Clint gab ohnehin stur keine Auskunft und was er damit getan hatte, spottete jeder Beschreibung.
„Oh, das wusste ich nicht“, kommentierte der andere das Offensichtliche und lehnte sich dann ans Fenster der Rückbank. Barbara, die auf der anderen Seite saß, musterte ihn aufmerksam und knuffte Juan in die Seite, zum Zeichen, dass sie noch nicht bereit war, Clint vom Haken zu lassen. Dieser sah sie bloß verständnislos an und stopfte sich weiter Krabbenchips in den Mund.
„Helen, Schatz, wie geht es euch da hinten?“, erkundigte sich die Grauhaarige vorsichtig und wandte sich so gut sie konnte zum Kofferraum. Helen und Martha hatten die ersten Kilometer über ohne Unterbruch geweint, während Mitchel versuchte sie zu beruhigen. Seit er bewusstlos war, hatte das Weinen aufgehört und war einer düsteren Vorahnung gewichen.
„Alles okay“, kam sogleich die bezeugende Antwort. „Mitchel geht’s gut, er schläft nur!“ Die Angst war ihrer zittrigen Stimme deutlich anzuhören und wer konnte es ihr verübeln? Helen hatte vor weniger als vierundzwanzig Stunden zwei ihrer drei Kinder sterben sehen und es führte kein Weg daran vorbei, dass sie in Kürze auch ihren Ehemann verlieren wird. Das Leben, sinnierte Tess, war grausam, sie wusste bloß nicht, ob sie sich jemals daran gewöhnen würde.
„Rooster“, flüsterte Barbara dringlich, „fährst du bitte mal eben rechts ran?“ Hatte sie etwas entdeckt, von dem die anderen noch nichts wussten? Aufgeschreckt fuhr der Professor herum und schien angestrengt in den Kofferraum zu starren, dann wirbelte er wieder zurück und deutete mit einer besorgten Geste nach hinten.
„Ich glaube, sie hat recht, halt kurz an“, bestätigte Tess Barbaras Bitte.

Martha wartete unentschlossen neben Clint, welcher ihre kleine Hand hielt und tröstend auf sie einredete. Das kleine Mädchen hatte keine Ahnung, was vor sich ging, doch es musste verstanden haben, dass es um ihren Vater ging, denn Martha weigerte sich, von seiner Seite zu weichen. Die anderen standen vor der Kühlerhaube des riesigen Jeeps, sodass sie die nächsten Schritte unter zehn Augen besprechen konnten.
„Ich sagte doch, es geht ihm gut, er ist bloß etwas müde“, beteuerte Helen zum wiederholten Male, doch mit jeder Minute wurden ihre Worte leiser, unsicherer.
„Helen Schatz“, begann Barbara und legte einen Arm um die verstörte Frau, ehe sie fortfuhr: „Ich weiß, das ist ein wirklich schlimmer Tag für dich, aber wir können die Tatsachen nicht länger ignorieren.“
Tess schauderte es, in so einem Moment an die Vernunft der Mutter appellieren zu müssen, viel lieber würde sie Helen so lange wie möglich in dem Glauben lassen, dass noch Hoffnung bestand. Doch in einer Situation wie dieser musste man realistisch bleiben, sogar wenn das bedeutete, eine Frau, die um ihre Familie fürchtete, mit der Peitsche zur Besinnung zu zwingen.
„Er schläft doch nur!“, kreischte Helen aus vollen Lungen, was den Professor dazu brachte zusammenzufahren und Rooster mit gezückter Waffe die Gegend nach allem abzusuchen, das die Schreie gehört haben könnte.
„Helen!“ Tess wollte sie nicht anbrüllen, ihr erst recht keine Vorwürfe machen, dennoch tat sie es. „Willst du Martha in Gefahr bringen?“
Das Mädchen blickte bei ihrem Namen auf, ließ ihre Kokosmilch fallen, riss sich von Clint los und rannte zu ihrer Mutter, die sie fest in den Arm nahm und laut schluchzte: „Nein, um Himmels willen, nein! Martha darf nichts geschehen!“
Wieder ging Barbara auf die verzweifelt weinende Helen zu, streichelte ihr behutsam über den Rücken. „Helen, wir wollen nur das Beste für dich und Martha.“ Sie wartete eine Weile ab, bis sich Helen soweit beherrschen konnte, um ihr Gegenüber anzusehen. Dann fragte sie leise: „ Vertraust du uns?“ Die Angesprochene nickte, nur zögerlich, aber sie tat es und beschloss damit das Schicksal ihres verwundeten Gatten.

„Ich kann es tun“, meinte Clint, für Tess‘ und Roosters Geschmack bedeutend zu gleichgültig. Helens Körper verkrampfte sich und niemand zweifelte daran, dass sie sich umgehend gegen ihre Abmachung stellen würde, wenn Clint sie ausführen sollte. Seit Jacks brutalem Tod schien der junge Mann für nichts und niemanden Empathie aufzubringen, stattdessen konzentrierte er sich vollends auf sein unausgesprochenes Ziel, so viele Zombies wie möglich zu eliminieren. Zombies sowie alles andere, das einer werden könnte; so wie Mitchels und Helens Sohn, dessen Leid er noch auf dem Feld beendet hatte. Tess glaubte hinter Clints Rachsucht Wahnsinn zu erkennen, doch steckte nicht immer Irrsinn hinter Rache?
„Kommt nicht in Frage“, beschloss Rooster, ohne die anderen um ihre Meinung zu bitten. „Und damit es klar ist, du bekommst vorerst keine Waffe, nicht einmal ein Jagdmesser!“ Keiner der anderen hatte einen Einwand und Tess war erleichtert, dass nicht sie die Regeln für ihren Freund hatte aufstellen müssen.
„Ich könnte nicht …“, ließ der Professor schüchtern verlauten und überbrachte damit keine bahnbrechenden Neuigkeiten. Vermutlich hatte er seit dem Ausbruch der Seuche nicht eines dieser Biester erledigt, geschweige denn einen Menschen. „Ich bin Pazifist.“
„Natürlich bist du das“, spuckte Rooster aus, verdrehte die Augen und wandte sich dann an Tess. „Es bleibt ohnehin an mir hängen, nicht wahr?“
Tess wurde in Zugzwang gebracht, brauchte aber einige Sekunden, bevor sie auf Roosters indirekte Anklage reagieren konnte. Schlussendlich musste sie einsehen, sich bloß beschuldigt zu fühlen, weil tatsächlich viele der unangenehmen Dinge ihres Alltags auf den Hochgewachsenen abgewälzt wurden; das mochte für sie zwar praktisch sein, jedoch nicht fair.
„Nein, ich werde es tun.“ Sie klang genauso, wie ihr zumute war, miserabel und kleinlaut. Bisher hatte Tess noch nie auf einen lebendigen Menschen geschossen und die Aussicht darauf, einem Familienvater aus nächster Nähe direkt in den Schädel zu feuern, machte ihr unheimlich Angst. „Wir tun schließlich das Richtige, oder, Juan?“ Es war aussichtslos, dennoch bangte ein Teil von ihr weiter auf eine winzige Möglichkeit, Mitchel trotz der Bisswunden retten zu können.
„Sogar wenn wir bereits eine Heilung hätten, wir könnten ihn niemals rechtzeitig …“, holte der Professor aus und sah betreten zu Boden. Er musste nicht weitersprechen, alle Anwesenden wussten, dass Mitchel die Zeit davonrannte. Zaghaft versuchte er Tess aufzuheitern, das was sie tun musste irgendwie gutzuheißen: „Ja, Tess, ich bin davon überzeugt, dass es die einzig valide Option ist.“
„Oh, sieh mal einer an, der Professor Superschlau spricht sich für die Todesstrafe aus“, gab Rooster verbittert von sich. „So schnell kann es gehen, ich dachte, wir müssten erst einen transdisziplinären Diskurs abhalten.“
„Ich bin Naturwissenschaftler, kein verdammter Soziologe!“, empörte sich Juan. „Wir arbeiten integrativ, aber der Begriff der Transdisziplinarität ist zu vage, um ernstgenomm…“
„Haltet die Klappe!“ Barbara war vor Helen und Martha getreten und funkelte die beiden Streithähne düster an; diese taten wie befohlen und gaben keinen Mucks mehr von sich. „Helen, möchtest du, dass ich Mitchel …“ Sie schluckte, strich sich einige graue Strähnen aus dem Gesicht. Niemand wollte es aussprechen, nur Helen tat es, mit einer Kraft, die sie sich selbst nicht zugetraut hatte.
„Ich möchte es tun, ich möchte meinem Mann den Gnadenschuss schenken.“ Ihre letzte Tochter riss die Augen auf und ein Schluchzen blieb ihr in der Kehle stecken, während Helen den Revolver ihres Mannes von der Rückbank holte und ihn Rooster entgegenhielt. „Du musst mir zeigen, wie das geht.“

Autorin: Rahel
Setting: Jeep
Clues: Zähler, Krabbenchips, Peitsche, Kokosmilch, Transdisziplinarität
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