Nichts ist real

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

„Willkommen in der Welt von Morgen!“, dröhnte eine phatostropfende Stimme durch Phillips Gedanken, da öffnete er die Augen und kippte sogleich vornüber.
„Bitte, was?“, krächzte er und kam sich so vor, als hätte er Jahrhunderte verschlafen. Doch abgesehen davon ging es ihm erstaunlich gut, den Sturz hatte er kaum wahrgenommen. Vage erinnerte er sich daran, in seinem Auto gesessen zu haben, das vermaledeite Radio hatte gerauscht … Nein, eine Unwetterwarnung war … Oder … Wie war das noch gleich gewesen? Irritiert schüttelte er den Kopf, setzte sich auf und blinzelte gegen das orange Licht an. Vor ihm waberte eine fremdartige Gestalt, ein undefinierbarer Blob, der pure Freundlichkeit ausstrahlte. „Bin ich in der Zukunft?“
„Ha“, tönte die seltsame Figur. „Ha, ha, ha!“ Sollte das ein Lachen sein? „Ha, ha. Nein. Tut mir leid, den Spruch wollte ich unbedingt ausprobieren.“
„Okay.“ Phillip fühlte sich tiefenentspannt, er konnte unmöglich festmachen, weshalb, aber er verspürte vollkommenes Vertrauen. „Wo bin ich denn dann?“
„Du bist tot“, kam prompt die Antwort. „Nimm einen Schluck.“ Das Wesen reichte ihm ein Glas mit einer cyanblauen Flüssigkeit, die er in einem Zug runterstürzte. Die Luft war warm, so flauschig weich wie das Fell von Strobo, dem Kater, der an seinem neunten Geburtstag überfahren worden war.
„Tot, sagst du?“ Phillip lehnte sich irgendwo an und stellte anschließend fest, dass es in dieser orange flammenden Leere eigentlich nichts gab, gegen das er lehnen könnte. Was für ein grenzenlos gemütlicher Ort. Moment … ein befreites Grinsen breitete sich auf seiner Miene aus und er korrigierte seine Überlegung: Was für ein grenzenloser, gemütlicher Ort. „Tot. Tja.“
Es roch nach Plätzchen, schwefelhaltigen Zündhölzchen, staubigen Geschenkpapierrollen und Schweinebraten. „Ach, wie schön. Weihnachten“, schwärmte Phillip. „Weihnachten ist zu lange her.“
„Stimmt.“ Der Blob kam ein wenig näher, loderte in den Farben bekannter Gesichter und verweilte bei einer verwischten Darstellung seiner Oma. „Du hattest nie Zeit.“
„Ja. Viel zu wenig Zeit“, stimmte Phillip zu und der wohlig vertraute Geruch verflog. „Nun habe ich keine mehr.“
„Nein. Die Zeit hört auf, wenn man tot ist“, wurde sein Verdacht bestätigt und Großmutters Antlitz verschwand im gräulichen Schnodder des Blobs. „Die Zeit ist weg.“
„Tja.“ Phillip ließ die Füße baumeln und gähnte ausgiebig, bevor er sich wiederholte. „Tja. Tot.“
„Ja. Tot.“
„Sollte mich das stören?“, erkundigte er sich. Vermutlich schon, zumindest hatte er immer gedacht, das mit dem Sterben wäre ein mächtiger Rückschritt für sein Wohlbefinden, stattdessen genoss er es richtiggehend. So ruhig, so angenehm ruhig. „Sollte es?“
„Wenn du magst.“ Der Blob zuckte, vielleicht mit den Schultern, genau war das nicht auszumachen.
„Okay.“ In der Ferne, wohl am anderen Ende des Nichts, spielte eine alte Schallplatte. Es war das Lieblingsalbum seines Vaters, sie hatten es ihm ins Grab gelegt. „Und jetzt?“
„Jetzt?“
„Na, ich bin tot. Was kommt jetzt?“ Eine milde Sommerbrise rauschte durch sein Haar, seine Schwester kicherte unbeschwert und Moos kitzelte seine Sohlen.
„Dreimal darfst du raten.“ Mit einer einladenden Geste drehte sich der Blob um und glitt ein paar Kilometer durchs orange glimmende Vakuum.
„Raten?“ Mühelos folgte Phillip seinem Gefährten im Jenseits, seine Schwester blieb indes auf der Schaukel sitzen.
„Ja. Raten.“
„Okay. Ich nehme nicht an, dass eine der Religionen richtig lag?“
„Pff“, zischte der Blob amüsiert. „Ich bitte dich, Phillip, sei nicht albern.“
„Na gut. War alles bloß eine Simulation, ein langweiliges Handyspiel für ebenso langweilige Alienhausfrauen?“
„Nein. Du kannst nur noch einmal raten, Phillip. Ein letztes Mal.“
„Das mit den Religionen war eine Feststellung, kein Vorschlag“, protestierte er schwach und segelte durch die orange Leere.
„Die Formulierung war unklar.“
„Hm. Okay.“ Phillip sinnierte laut: „Ein letztes Mal.“ Sie hielten inne, waren dort angekommen, wo sie hinwollten und er sah sich bewundernd in der orangen Unendlichkeit um. Nichts hatte sich verändert, trotzdem war alles anders. Seine Mutter summte ein Schlaflied, Ewigkeiten war es her, seit er es zum letzten Mal gehört hatte. „Hm. Bleibe ich hier, im Orange?“
„Nein. Du kannst nicht mehr raten.“
„Oh. Schade.“ Zähflüssig wickelte sich eine glühende Umarmung um Phillip, seine Frau krallte sich an ihm fest und flüsterte ihr Eheversprechen. „Wohin gehe ich?“
„Nirgendwohin“, erklärte der Blob und gab ihm ein zweites Glas, gefüllt mit Magenta. „Nichts davon ist real.“
„Du bist ich, richtig?“
„Richtig.“ Der Blob sank ein wenig in sich zusammen und schenkte Phillip ein mitleidiges Lächeln, die Liebkosung verlor sich in der Endlosigkeit des Übergangs.
„Mein Hirn?“
„Richtig.“
„Oh“, murmelte Phillip. „Wie lange flackern die Neuronen noch?“
„Schwer zu sagen. 0.00042 Sekunden, eventuell weniger. Nicht mehr lange.“
„Okay.“ Nach und nach dämmerte es ihm … Das Orange vergilbte. „Zeigst du mir meine Tochter?“
„Geht nicht, ihr Bild ist zerstört.“
„Oh.“ Phillip hockte sich neben sich selbst auf den falben Boden, der keiner war und seufzte tief. „Muss ich mich fürchten?“
„Vor was?“
„Vor … nichts.“
„Nein.“
„Schön. Das ist schön.“ Sein Hund kam angelaufen, durch seine bernsteingelben Augen hindurch erkannte er die Welt, die er hinter sich ließ und von irgendwoher rauschte Liebe durch sein Herz. „Schön“, wisperte Phillip. „Das ist schö

Autorin: Rahel
Titelvorgabe: Nichts ist real
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