Audries Sternschnuppe

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Audrie verschränkte ihre Finger ineinander und rotierte ihre Handgelenke. Wahrscheinlich sollte sie in Bett gehen, sonst könnte sie dem Pöstler auf der Morgentour bald einen freundlichen Gruß zurufen. Um ehrlich zu sein, wäre es nicht nur wahrscheinlich, sondern garantiert klüger, jetzt gleich in die Kissen zu fallen. Allein um ihrer Hände willen, die unter ihrem nächtlichen Spielfieber litten und ihr mit krampfartigen Zuckungen am Controller den eindeutigen Hinweis gaben, eine Pause einzulegen. „Hm-krpf“, grunzte Audrie in die Nacht hinaus und entschied sich, noch eine, vielleicht zwei, maximal aber drei Runden zu zocken, bevor sie sich eine Schmerztablette gönnen und sich anschließend hinlegen wollte. Gut, eine Glückssträhne würde sie keinesfalls unterbrechen, dann wären auch fünf Matches drin. Ächzend schnappte sie sich die Tasse mit dem kalten Kaffee vom Balkongeländer, stellte sie auf das Tischchen, plumpste auf den einzigen Stuhl, der auf ihrem kleinen Balkon Platz hatte, und zündete eine Zigarette an. Eigentlich hatte sie mit dem Schmarrn aufgehört, sowieso war sie bis vor einigen Wochen auf guten Wegen in ein gesünderes, produktiveres Leben gewesen – sie quälte sich täglich eine Stunde früher aus den Federn, meditierte zu unfassbar nerviger Musik, ging jammernd joggen und, Herrgott, sie verzichtete sogar auf Grillwürste und Rahmsauce. Da Audrie allerdings nicht aus Überzeugung zum fleißigen Veganer mutiert war, sondern lediglich den Zahn der Zeit an sich raffeln hörte, hielten ihre Pläne etwa so lange, wie eine Tüte Kartoffelchips im Küchenschrank. Momentan redete sie sich ein, ihr fehle es an Willenskraft, während jedem außenstehenden Beobachter klar war, dass Audrie als vollzeitarbeitende, alleinerziehende Mama von dreien Schlaf und Nervennahrung benötigte. Gedankenverloren lehnte sie sich gegen die Wand, die Blümchen vom Schnittlauch, der neben einem schütteren Basilikum auf dem Fenstersims unberührt wucherte, kitzelten ihre Nase. Sie pustete die violetten Bällchen von sich weg, knurrte unverständliche Flüche, als die Puschel erwartungsgemäß zurückwippten und rückte zur Seite. „Vertrieben vom Schnittlauch“, meckerte sie leise vor sich hin und wunderte sich, woher diese latente Unzufriedenheit kam, mit der sie sich seit heute früh herumplage. Morgen kämen ihre Kinder nach zwei Wochen im Ferienlager wieder heim, vermutlich rührte ihre Laune von daher. Ihr graute vor dem Lärm, der Verantwortung, dem ständigen Stress, viel lieber hätte Audrie die Wohnung für einen Monat, besser noch ein ganzes Jahr für sich gehabt. Sie hatte gehofft, die drei zu vermissen, sich gegen Ende der vierzehn Tage darauf zu freuen, sie wiederzuhaben. Stattdessen bestätigte sich, was sie längst wusste. „Ach“, seufzte sie, bemerkte, wie die Wirkung des Hasch nachließ und tauschte ihre Zigarette gegen den Jointstummel im Aschenbecher aus. Eine angenehme Wärme breitete sich in ihrer Brust aus, im Hals kratzte es ein wenig und sie überlegte, ob sie sich nachher zum Gamen eine Schüssel M&Ms, Popcorn oder beides genehmigen sollte, da entdeckte sie zufällig eine Sternschnuppe, die knapp über dem Nachbardach zu sehen war. „Ich wünschte mir, ich hätte keine …“, holte sie im Flüsterton aus und riss sogleich bestürzt die Augen auf. Zweierlei Dinge brachten Audrie aus dem Konzept – einerseits verängstigte sie, was sie gerade eben beinahe ausgesprochen hätte, andererseits war die Sternschnuppe stehengeblieben, hing scheinbar wenige Zentimeter vor ihr. „Seltsam“, murmelte sie, schaute zuerst auf das glänzende Pünktchen, danach misstrauisch auf den Rest ihrer Haschisch-Zigarette.
„Was hast du gesagt?“, fragte jemand und Audrie fuhr erschrocken herum, starrte in den dimm beleuchteten Innenraum.
„Hallo? Wer ist da?“ Ihr Herz klopfte wie wild, sie war sich ziemlich sicher, sich bloß etwas einzubilden, wer sollte schon um halb fünf Uhr morgens bei ihr einbrechen und sich mit ihr unterhalten wollen?
„Wir“, entgegnete die unbekannte, sonderbar helle Stimme. „Wir sind direkt vor dir, du Dumpfbacke.“
„Was?“ Erneut blickte sie auf den eingefrorenen Meteoriten, schüttelte den Kopf und schmunzelte: „Ich werd’ noch irre.“
„Echt?“, meinte die Sternschnuppe und pulsierte in einem blassen Grün. „Wieso denn?“
„Scheiße. Ich darf nicht mehr kiffen.“ Audrie rieb sich die Schläfen, lachte auf und blies prustend Luft zwischen den Lippen hindurch.
„Ih, das kitzelt“, beschwerte sich der Punkt und glühte rot, ehe er auf ein helles Blau wechselte. „Lass das.“
„Das …“ Sie hob den Arm, streckte den Zeigefinger aus und berührte die Sternschnuppe. Sie war lauwarm, ein wenig klebrig und kicherte.
„Hör auf uns zu kitzeln, haben wir gesagt.“

„Das … Das kann nicht wahr sein!“ Ungläubig blinzelte sie, ertastete die lehmige Masse, die sich größer anfühlte, als sie aussah, gleich nochmal. „Mein Gott, was ist das?“
„Was?“
„Du“, gab sie erstaunlich ruhig zurück. „Du. Das ist … Nein.“ Sie drückte den angekokelten Filter aus und stand auf. „Ich muss schlafen, das ist doch völlig irre.“
„Ja dann, gute Nacht Audrie“, sagte der Punkt offensichtlich enttäuscht und schwirrte plötzlich in Richtung der Balkontür. „Wir dachten, du hattest einen Wunsch für uns.“
„Bitte?“ Bestimmt spielte ihr vernebelter Verstand ihr Streiche, trotzdem packte sie die Neugier, so eine skurrile Halluzination hatte sie tatsächlich nie zuvor erlebt, erst recht nicht wegen einem läppischen Joint. Sie linste zum chaotischen Stapel auf dem Beistelltisch, den sie durchs Fenster sah und zog kurz in Erwägung, sich einen Notizzettel zu holen, um die ungewöhnliche Begegnung mit dem Stern zu dokumentieren.
„Dein Wunsch. Du wolltest dir was wünschen und wir erfüllen es dir gerne, Audrie. Was war es?“ Fröhlich hüpfte das Sternchen vor ihr auf und ab, flackerte in Farben, die sie unmöglich hätte beschreiben können.
„Was bist du?“, forderte sie zu erfahren, woraufhin ihr unerklärliches Gegenüber in Gelächter ausbrach und sie korrigierte: „Wir, du Dummerchen. Wir sind achtunddreißig Milliarden, zwölf Millionen, vierhunderttausend, zweihundertvierundachtzig und einhalb“, erläuterte der Stern schließlich und begann unzählige goldgelbe Funken zu sprühen. Audrie hielt die Hand schützend vors Gesicht.
„Ihr seid achtunddrei…“ Sie hielt inne, lugte zwischen ihren Fingergliedern hervor, räusperte sich und spürte einen feuchtkalten Kloß in der Kehle. „Du … Ihr wollt mir meinen Wunsch erfüllen?“
„Selbstverständlich. Dafür sind wir aus der vierzehnten Galaxis hinter Quazipedia angereist. Dein Flehen hat uns hergelockt.“
„Jeden“, sinnierte Audrie laut. „Absolut jeden, egal wie scheußlich?“

Autorin: Rahel
Setting: Balkon
Clues: Schnittlauch, Notizzettel, Pöstler, Neugier, Veganer
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