Wissen ist Macht | Bocksprung

Dies ist der 4. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Wissen ist Macht“.

Ich habe Bockspringen immer gehasst. Wieso? Weil man voll auf die Fresse fliegt, wenn man landen will. Und wenn das nicht der Fall ist, dann springt man zu kurz, knackst sich was am Bein oder trägt starke Schmerzen an den Genitalien davon. Es gibt genau zwei Gründe, wieso man es doch immer wieder tut: Zum einen der an einen Drillseargeant erinnernde Sportlehrer mit seiner impertinenten, Tinnitus verursachenden Trillerpfeife und zum anderen die verfluchte Sturheit, den Glauben daran nicht verlieren zu wollen, dass etwas funktioniert, egal wie planlos man daran herangeht. Bockspringen war für mich immer das Sinnbild für etwas gewesen, das ich nie wieder tun wollte – und doch immer wieder getan habe. Übrigens, für jemanden mit genug Körperkoordination ist es kein Ding, so etwas richtig zu tun, doch wenn ich diese hätte, wäre ich Leistungssportlerin geworden und würde nicht im Büro arbeiten. Eigentlich kann ich so gut wie nichts, aber wen überrascht das schon?

Doch halt – wie bin ich eigentlich auf Bockspringen gekommen? Logisch, weil ich wieder diese Wut im Bauch habe, wie damals, als ich im Sportunterricht versagt hatte, nur dass sie dieses Mal viel stärker ist. Wut auf uns alle, dass wir das Offensichtliche ignoriert haben, aber vor allem eine unsägliche Wut auf mich selbst, weil ich hatte glauben wollen, weil ich mich glauben gemacht hatte. Ich nehme einen tiefen Atemzug und versuche mich zu beherrschen, nicht die Kristallglasvase mit den Veilchen auf meinem Schreibtisch zu packen und gegen eine der hässlichen hellgrauen Wände zu schleudern. Ruhig bleiben, Ada, jemand schaut dir zu, ermahne ich mich stumm und mit einem Seitenblick auf die unscheinbare Kamera, die an der Decke befestigt ist. Meine Gedanken drehen sich im Kreis und ich weiß genau, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis der Kreis zu einer Abwärtsspirale wird, dass der Zorn nur ein Schutzmechanismus ist, lächerlich und bedeutungslos. Ich muss das Durcheinander in meinem Kopf ordnen, bevor mir eine weitere idiotische Nachlässigkeit womöglich das Leben kostet. Mir ist klar, dass mir die Aggression tatsächlich hilft, immerhin lenkt sie mich von der lähmenden Angst ab, die ich sonst kaum vergessen könnte. Aber ich muss jetzt weiterarbeiten, darf nicht mehr auf das Inferno auf dem Holoscreen-TV an meiner Bürowand starren und darf mir nichts anmerken lassen. Das ist nichts weiter als ein ganz normaler Morgen, an dem ich zu meiner Arbeit beim Wissenskorps erschienen bin, lächle und meinen Job mache. Dass die Nachrichten den ganzen Tag über den Untergang des Widerstandes zeigen, sind zwar Breaking News, doch kein Grund für die Regierungsbeamte Ada Callahan, ihre Arbeit niederzulegen, sage ich mir selbst. Die Widerstandskämpferin Ada Lovelace, die ich hier nicht sein darf, sieht die Sache freilich ganz anders und möchte eine Tirade aus Schimpfworten durch das hässliche Regierungsgebäude schreien. Wir sind so verdammte Idioten gewesen! Natürlich, wir waren alle einigermaßen gebildete Menschen, doch wir haben niemanden in unseren Reihen gehabt, der auch nur ein Fitzelchen echte Kampferfahrung oder Taktikwissen mitgebracht hat. Eigentlich sind wir nur ein jämmerliches Häufchen Idealisten gewesen, die sich mehr abgebissen haben, als sie kauen konnten. Und gestern ist es endlich soweit gewesen, wir haben den Preis für unseren Leichtsinn bezahlt, als wir den Serverraum vom Wissenskorps hochjagen wollten. Na ja, vielleicht sollte ich nicht von „Wir“ sprechen, immerhin bin ich nicht dabei gewesen, weil ich Angst vor diesem Risiko gehabt habe und nur deshalb bin ich jetzt noch am Leben. Wie alles abgelaufen ist, weiß ich nicht, aber in den Nachrichten wird erzählt, dass die Widerstandskämpfer an die Regierung verraten und in einen Hinterhalt gelockt worden sind. Danach haben sie sich zusammen mit dem ganzen Gebäude in die Luft gejagt – sich zu ergeben ist keine Option gewesen. Na, immerhin haben sie den Serverraum noch zerstört, denke ich mir sardonisch, bevor ich wieder den Holoscreen meines Databooks aktiviere und mit einem Seufzer aus unterdrückter Rage weiterarbeite.

Ein Blick auf die großen Uhrziffern an der Wand verrät mir, dass es Zeit ist, nach Hause zu gehen. Müde und erschöpft lehne ich mich auf dem ergonomischen Stuhl zurück, der sich automatisch meiner Sitzhaltung anpasst und mir fällt wieder die Tatsache ein, dass der ganze Widerstand gescheitert ist. Und auch, wenn ich weiß, wie egoistisch das ist, muss ich in erster Linie an mich selbst denken und erinnere mich, wie kann es auch anders sein, an den Sportunterricht.
„Es ist ein verdammter Bocksprung, wie schwer kann das schon sein?!“, hatte mich der Sportlehrer immer angeblafft, wenn ich wieder auf der Matte oder, weit schmerzhafter, auf dem Bock gelandet war. Einmal hatte ich sogar meine dicke Brille dabei zerbrochen, was mich noch mehr zum Gespött von meiner Klasse gemacht hatte, als ich es ohnehin schon gewesen war. Jedes Mal, wenn ich daran erinnere, was für Spitznamen mir meine Klassenkameraden gegeben haben, steigt mir wieder die Schamesröte ins Gesicht, sogar jetzt, nach fünfzehn Jahren. Nach der Schulzeit war nur noch mein Intellekt gefragt und ich brillierte – zumindest bis vor kurzem. Ich kann nicht einmal sagen, dass ich es bereue, mich dem Widerstand angeschlossen zu haben, aber ich hätte erkennen sollen, dass wir nicht soweit waren, nicht genug Leute und vor allem, nicht genug Wissen hatten. Das, was letzte Nacht passiert ist, hat irgendwann geschehen müssen und mir fallen die Worte meines Sportlehrers ein: „Ada, du springst nicht, wenn du nicht bereit bist!“ Offenbar habe ich nichts dazugelernt und eine innere Stimme sagte mir schon den ganzen Tag, dass ich das Ganze hätte verhindern können, wenn ich unser Handeln kritischer betrachtet hätte.
Mechanisch beginne ich damit, meine Sachen zusammenzupacken, um bald durch die verregnete Nacht zur Rohrbahn zu staksen und mir später zuhause eine Nahrungsportion aufzuwärmen. Mein Blick fällt auf das Poster des PR-Ministeriums, das zum Lächeln auffordert und wieder brodelt diese Wut in mir hoch. Ich habe gegen ein Regime gekämpft, das den Leuten vorschreibt, was sie zu denken und wer sie zu sein haben, genau wie es mit den populären Kindern in der Schule gewesen war. Und beide Male bin ich gescheitert, in der Schule, weil ich kein Geschick im Umgang mit Leuten hatte und in diesem viel grösseren Kampf, weil ich naiv gewesen bin. Und so muss ich weiterhin meinen Job für die Regierung tun und Leute finden und wegsperren lassen, welche dieselben Überzeugungen haben wie ich. Das Netteste, was mir dazu noch einfiel, war „Scheißleben“.

Es überrascht mich kaum, dass ich nach solch einem Tag nicht einschlafen kann und die holographischen Ziffern des Weckers verraten mir, dass es bald drei Uhr morgens ist. Der Zorn hat endlich der Resignation Platz gemacht und ich ertappe mich alle paar Minuten dabei, wie mein Blick zu der Waffe auf dem Nachttisch wandert, die ich zusammen mit meiner blauen Wissenskorps-Uniform bekommen habe. Nicht, dass ich derart große Lust darauf hätte, mich umzubringen, doch in der aktuellen Lage wäre es auf jeden Fall der einfachste Ausweg. Den Widerstand, und damit den einzigen Grund, wieso ich diesen grauenhaften Job mache, in dem ich nichts anderes tue, als Menschenleben zu zerstören, gibt es nicht mehr und die Regierung lässt keine Kündigungen zu.
Will ich wirklich noch jahrelang etwas tun, das ich schrecklich finde, ohne eine realistische Aussicht auf Veränderung? Irgendwie komme ich mir bei dem Gedanken so vor, als wäre ich eine lebende Tote.
Ich setze mich entschlossen und ruckartig auf und greife, ohne das Licht anzumachen, nach der Pistole, die sich in meiner Hand kühl anfühlt. Wieso gibt man auch den Büroangestellten vom Wissenskorps eine Waffe? Unwillkürlich breche ich in Gelächter aus, da sitze ich in meinem Bett, in einen geblümten Pyjama, denke darüber nach, mich umzubringen und mir fällt eine dämliche Frage ein. Und in diesem Moment begreife ich, wie rücksichtslos es wäre, wenn ich es wirklich tun würde. Ich würde meine Schwester im Stich lassen und all die „Ideologieverbrecher“, die nur mit ihrem Leben davon kommen, weil ich ihre Akten verschwinden lassen kann. Nein, ich darf es nicht tun – wahrscheinlich bin ich die Letzte, aber ich konnte genauso gut auch die Erste sein. Die erste Widerstandkämpferin einer neuen Bewegung, einer besser geplanten Organisation …
Das Piepsen meines zweiten Cell-Coms reißt mich aus meinen Grübeleien und ich zucke zusammen. Wer ruft mich mitten in der Nacht auf der abhörsicheren Leitung an, auf der ich mit dem Widerstand kommuniziert habe? Ist es soweit, hat mich die Regierung nun doch gefunden? Zögerlich nehme ich das Gerät zur Hand und überwinde mich, den Anruf anzunehmen. Manchmal muss man den Sprung einfach wagen – auch wenn man auf die Fresse fliegen kann.

Autorin: Sarah
Titelvorgabe: Bocksprung
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