Wissen ist Macht | Epilog

Dies ist der Epilog zur Fortsetzungsgeschichte „Wissen ist Macht“.

Es engt mir den Brustkorb ein, lastet schwer auf mir, droht, mich zu ersticken. „Steh auf“, befehle ich mir stumm, schaue mich flehend in der Bibliothek um und erkenne niemanden, bleibe letztendlich wie gelähmt sitzen. Eigentlich möchte ich niemanden sehen, niemanden sprechen, aber ich benötige Input, irgendwelche audiovisuellen Stimuli, die mich in die Realität zurückholen, mich meine soziale Verpflichtung zur perfekten Höflichkeit bewusst werden lassen und den Raum in meinem Kopf füllen, den eben Chaos, Kontrollverlust sowie eine endlose Abwärtsspirale der Lähmung eingenommen haben.
Was würde ich bloß dafür geben, genau in diesem Augenblick von einem zufällig umkippenden Bücherregal erschlagen und zerquetscht zu werden, es wäre eine Gnade, die ich mir vielleicht selbst schenken sollte. Das Atmen ist alles andere als einfach, ich weiß nicht, wieso. Angestrengt, konzentriert versuche ich die flachen Atemstöße in langsamere, tiefe Züge zu verwandeln. „Halt“, unterbreche ich kurz den rotierenden Gedankengang, den unvermeidlichen Strudel ins Nirgendwo, mit einem Flüstern. Warum sucht mich kalte Furcht, gepaart mit dem Wunsch, endlich Ruhe zu finden, andauernd heim? Fehlfeuernde Neuronen, elektrochemische Anarchie, was weiß ich schon, ich habe keine Ahnung von dem Kram. Ich muss mir einen Ruck geben, muss ausbrechen aus diesem mentalen Gefängnis …
Meine Hand berührt den letzten Ankerpunkt meiner geistigen Gesundheit, das Buch, das ich stets wieder aufschlage; Adas Autobiographie. So viele Jahre ist es jetzt her, mein Haar ergraut, bald schlohweiß. Die meisten anderen in diesem Heim sind aus ähnlichen Gründen wie ich hier, teils das Alter, hauptsächlich die Narben, geritzt von der Behandlung auf der Insel. Die Sonne geht auf und unter, Tag für Tag, Äonen in welchen alles eingefroren ist, für mich ist Zeit kaum spürbar, mein Intellekt ein Trümmerhaufen, der von messerscharf zu schwammig-porös hin- und herwechselt. Angststörungen, Posttraumatische Belastungsstörung haben sie diagnostiziert, wie bei den meisten Rückkehrern, und die Medikamente haben die verflossenen Dekaden erträglich gemacht. Seit letztem Winter ist alles anders, denn seit letztem Winter fehlt sie mir, die große Schwester, meine einzige Stütze nebst den Benzodiazepinen und dem …
„Miss Callahan?“ Die sanfte Stimme ist nahe, bedrohlich nahe, ich fahre erschrocken hoch, Bilder in meinem Hinterkopf, an die sich niemand erinnern möchte, flackern auf. Der Mann im weißen Kittel mit dem runden Gesicht lächelt mir zu und mechanisch erwidere ich die Geste. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Nein, danke“, antworte ich automatisch. Menschen sind für mich nach all dem Erlebten anstrengend geworden, mit Ada kam ich zurecht, konnte mich an ihrer Schulter ausweinen, mich ihr anvertrauen. Genauso mit Frederique, meinem Mann, nur ist er bereits vor langem gestorben; den Ehering trage ich immer noch, teils aus Sentimentalität, teils aus mangelnder Bereitschaft, eine neue Beziehung einzugehen.
Der mir unbekannte Doktor hakt nach: „Miss Callahan, es tut mir leid, doch Sie sehen blass aus, sind Sie sicher, dass sie nichts brauchen?“
„Ja.“ Ich überlege. „Nein. Vielleicht?“ Bevor er sein verständnisvolles Nicken zeigen kann, meine ich: „Und nennen Sie mich bitte Charlene.“
„Quentin.“ Der Arzt gibt ein amüsiertes Geräusch von sich. „Ein komisches Gefühl, jemanden wie Sie mit Vornamen anzusprechen.“
„Ich bin die einzige in der Sache, die nie etwas bewegt hat“, nuschle ich, leicht beschämt wegen des unvermeidlichen Ruhms, der mir nicht zusteht.
Natürlich muss mir Quentin sogleich widersprechen. „Sie waren die Schwester der ersten demokratisch gewählten Präsidentin der Vereinigten Erde, waren mit dem Mann verheiratet, der den Widerstand gegen die Dynastie angeführt hat. Sie standen mehr im Mittelpunkt als irgendwer sonst.“
„Die beiden haben sich nie besonders gut verstanden“, gebe ich belustig von mir und krame zugleich eine der Beruhigungstabletten aus meinem Etui. Ich will normal sein, keine diffuse Angst vor diesem netten Arzt empfinden. „Mir zuliebe haben sie sich mehr oder weniger zusammengerauft. Ich habe Ada überhaupt erst in die ganze Sache verwickelt …“ Ich deute matt auf das Buch, das vor mir auf dem Tisch liegt. „Sie können es gerne ausleihen, wenn Sie wollen.“
„Danke, ich habe die Kopie auf meinem Cell-Com bereits vor einigen Monaten gelesen. Haben Sie eine Ahnung, weshalb die Präsidentin verfügt hat, dass es nach ihrem Tod publiziert wird?“
Verwirrt, von jemandem mit seinem Bildungshintergrund diese Frage gestellt zu bekommen, erläutere ich: „Denken Sie daran, wie ehrlich Ada darin ist; sie verrät, was sie getan hat, wem sie es angetan hat. Keine Beschönigungen, ganze Tagebuchauszüge sind unzensiert. Sie wollte im fortgeschrittenen Alter wohl weniger im Zentrum eines Konflikts stehen, immerhin hat Ada fast alles widerwillig mitgemacht, ist in ihre Rolle gerutscht. Ich finde, sie hat ihren Frieden verdient, jetzt hat sie sich nicht mehr um die Welt oder eine geisteskranke, verwitwete Schwester zu kümmern, die mit ihrem ehemaligen Todfeind verheiratet war.“
Allmählich tut das Medikament seine Wirkung, das irrationale Bangen fällt von mir ab, rieselt zu Boden und ein weiches, warmes Tuch der des Friedens legt sich über meinen Geist, Erlösung für ein paar weitere Stunden.
Quentin runzelt die Stirn. „Wenn für Ihre Schwester diese Erinnerungen so schmerzhaft, so schwer waren, wieso sollte sie sie dann niederschreiben?“
„Wann wurden Sie geboren?“, erkundige ich mich. Er ist noch so jung.
„Im Jahr Sechs nach der neuen Zeitrechnung, ich bin also Siebenunddreißig und habe die Revolution nicht miterlebt.“
„Ada hat als Präsidentin stets gesagt, Wissen sei Macht und wir sollten die Macht haben, uns gegen die Wiederholung einer solchen Diktatur zu wappnen, damit wir die Oberhand über Unwissen und Furcht behalten. Daher fand sie, es sei von Bedeutung, zu wissen. Sie war nie eine typische Politikerin, hat unglaublich mit sich gehadert, bis sie das Amt tatsächlich angenommen hat.“
„Wissen“, sinniert Quentin und sieht sich in der alten Bibliothek aus der frühen Moderne um.
„Wir alle sind bloß reine Information. Der Großteil geht verloren, wenn wir sterben, aber wir können uns bemühen, möglichst viel der Informationen weiterzugeben.“ Liebevoll streiche ich über den Einband des Print-Buches, das höchstens für einige Sammler und Nostalgiker gedruckt worden war. „Längst hat alles seinen Weg ins ComNet gefunden, wo alle es lesen können, sogar die Passagiere auf Sternenschiffen, die zu den neuen Kolonien der Menschheit reisen, da draußen. Es ist eine neue Epoche und ich bin kein Teil davon, für mich ist das alles Science Fiction.“
Mit einer heiteren Miene schlägt Quentin vor: „Ich werde in wenigen Monaten auf eine Raumstation im Andromeda-Nebel auswandern. Dort gibt es auch eine solche Klinik, nur moderner, mit Spa und Kurmöglichkeiten. Wenn Sie wollen, kann Ihr behandelnder Arzt Sie sicherlich dahin überweisen.“
Lange werde ich nicht mehr leben, ohne Ada, ohne Frederique, habe ich nichts mehr, wofür es sich zu bleiben lohnt, meine Zeit wird bald kommen. Für wen sonst soll ich bereit sein, die Panikattacken durchzustehen, gegen sie anzukämpfen. „Ich habe meinen Mann im Mariannengraben kennengelernt und war mir damals sicher, niemals weiter von der Erdoberfläche entfernt zu sein. Was soll’s, unternehmen wir diese Reise!“

Es kommt mir nahezu bedächtig vor, als Quentin meinen Rollstuhl durch den langen Gang des alten Anwesens schiebt, in dem die wahnsinnigen und gebrochenen Angehörigen der Reichen und Mächtigen ihr Dasein fristen. Eine letzte Reise für Charlene, nur diesmal zu einer anderen Art von Insel, einer ruhigen Insel, weit, weit, weg. So wie es um meinen alten Körper steht, bei all den Erkrankungen, die an mir nagen, rechne ich nicht damit, lebendig zur Erde zurückzukehren. Was also spricht dagegen, diese schöne, neue Welt zu entdecken? Die Menschen, welche mir am nächsten standen, hatten für diese Freiheit den Grundstein gelegt, vielleicht kann ich sie so ein letztes Mal ehren. Wie gut, bin ich nicht so verrückt, dass ich einen Vormund brauche, noch kann die kleine, alte Charlene für sich selbst entscheiden, außer sie hat gerade eines ihrer Flashbacks.
Quentin, in den letzten Monaten mein neuer bester Freund geworden, lenkt mich auf den Ausgang zu, seine Schritte hallen gespenstisch auf dem Marmorboden. Als sich das doppelflügelige, hölzerne Tor wie von Geisterhand öffnet, fragt er: „Und, Charlene, wirst du irgendwann deine Memoiren schreiben?“
Er weiß, ich werde sterben, sicher hat er meine Scans gesehen, er ist für die nächsten Wochen offiziell mein behandelnder Arzt. Ein gelbes, neumodisches Schwebeauto, Flitzer nennen sie die Dinger, steht im herbstlichen Nebel bereit und er hilft mir umständlich in das Taxi, das uns zum Raumhafen bringen wird.
„Ich glaube, ich bin zu alt für sowas“, entgegne ich nach langem Überlegen und nehme eine weitere der Pillen, die meinen Verstand wabbeln lassen, dafür alle grauenhaften Erinnerungen aussperren.
„Dazu ist man nie zu alt, du reist gerade zu den Sternen“, wendet er ein. „Du kannst mir auch gerne diktieren, ich habe ein Cell-Com, das alles aufnimmt.“
Vielleicht hat der gute Doktor mit seiner Neugier auf das Vergangene ja Recht und es wäre klug, auch meine Geschichte jemandem zu erzählen, bevor es zu Ende geht. „Ich bin vielleicht die letzte, die noch lebt, nur, ich wüsste nicht einmal, wo ich anfangen sollte.“ Draußen gleitet die Landschaft vorbei, die ich ein letztes Mal genießen will, je länger desto mehr bin ich der Überzeugung, niemals zurückzukommen.
„Du weißt schon, irgendwas wie ‚Wir schreiben das Jahr 43 nach der neuen Zeitrechnung in einer Welt, die wir verändert haben …‘ Ich bin darin ungeübt, sowas auszudenken. Das ist deine Aufgabe.“
„Das werde ich“, murmle ich müde und mache es mir bequem, nehme innerlich Abschied von der Erde. „Sobald wir bei den Sternen sind, werde ich das tun.“

Autorin: Sarah
Setting: Bibliothek
Clues: Zeit, Stimme, Schritte, Gesicht, Augenblick
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