Special zum fünfjährigen Jubiläum | Fünf Jahre und der Himmel

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Es war an einem schwülen Nachmittag gewesen, einem typischen Spätsommertag in den Südstaaten, als Grampa mir das größte Geschenk der Welt gemacht hatte. Mein fünfter Geburtstag, um genau zu sein. Wann immer ich mich daran erinnere, schmecke ich die selbstgemachte Orangenlimonade meiner Mutter, zuckersüß klebt sie an meinen Zähnen und der einzigartig schlammige Geruch der Mangrovenwälder steigt mir in die Nase. Der Morgen hatte früh begonnen, es war ein Sonntag und wir waren wie üblich zur Messe gegangen …

Die Mutter trägt ihr Kleid in Vergissmeinnichtblau, es ist ihr zweitschönstes, findet ihr Sohn Rhett, es verblasst ein wenig neben dem Sonnenblumengelben. Der Strohhut baumelt am Band, kommt zwischen ihren Schulterblättern zu liegen, unter dem Geflecht und dem gewobenen Stoff verbirgt sie die Male ihres Mannes. Verwitwet in so jungen Jahren, das ist eine Tragödie, denkt manch einer in der Gemeinde, doch sie und ihr Kind wissen es besser. Anstandshalber spricht sie sanft lächelnd mit dem Pastor, lässt Mitleid wie Heuchelei über sich ergehen, bis der Bub am Bändel ihres Rocks zupft und zischt: „Ma!“
„Kleiner Mann“, grinst der Gottesdiener. „Wie ich höre ist der Tag des Herrn heute auch der deine.“
„Verzeihen Sie.“ Der Mutter entweicht ein Ächzen, keiner ist sich sicher, ob es ihrem Jungen oder dem Hirten gilt. „In die Geduld muss er noch reinwachsen.“
„Selbstverständlich, ich will Sie nicht länger aufhalten“, beginnt er und beugt sich zu Rhett. „Lass dir den Kuchen schmecken, mein Sohn. Ich bete für deinen Vater. Gott hab ihn selig, er ist jetzt im Himmel.“ An sie gewandt fügt er im Flüsterton an: „Und Sie kommen vorbei, wenn Sie von Nöten geplagt werden.“
„Besten Dank, Vater, sehr gütig von Ihnen. Es wird schon gehen. Wir sehen uns nächsten Sonntag.“ Damit nimmt sie Rhetts Hand, winkt zum Abschied und verlässt den frommen Ort.

Das Fliegengitter scheppert, als der Junge in die Küche schlüpft. Sogleich saugt er die kühle Luft ein, streckt sich und sagt zum Alten, der am Tisch Orangen schält: „Gramps, die Tochter vom Pfarrer hat mir Kuchen gegeben.“ Ein Grunzen kommt zur Antwort. Seine Frau war bereits vor Jahren in den Himmel gezogen, hat dort wahrscheinlich auf ihren Sohn gewartet, vielleicht, um ihn für seine Sünden in die Hölle zu stoßen, das hofft zumindest Rhetts Mutter. Seither hält sich der Großvater von der Kirche fern. „Schau mal, es ist ein Zitronenkuchen.“ Ein weiteres Brummen. „Willst du ein Stück?“
„Rhett“, unterbricht die hübsche Frau ihr Kind, das erwartungsvoll aufsieht. Da kommt der Schwiegervater ins Husten, wie so oft in den letzten Wochen. Sie reicht ihm ein Glas Wasser, ehe sie meint: „Rhett, ich gehe rasch zur Tante und bereite die Feier vor, bleibst du bitte solange bei Grampa?“ Er nickt, sie streichelt sein Gesicht und huscht dann über die Verandatreppe hinunter.
„So, du bist also fünf?“ Es ist mehr Feststellung statt Frage, trotzdem bejaht der Bub erfreut mit vollem Mund. „Fünf Jahre“, wiederholt der grauhaarige Mann und keucht heftig, bevor er die Ellenbogen auf dem Esstisch abstützt. Auf Rhett wirkt der Großvater wie ein Greis, erinnert ihn an die Geschichte von Methusalem, obschon er gerademal fünfzig ist. „Dann bist zu alt genug für das Geheimnis.“
Die Zikaden singen ihr monotnes Lied vom vorbeiziehenden Sommer, ein Lüftchen weht und die Gardinen flattern schlapp. „Ich sterbe“, vertraut er seinem Enkel an. Dessen Augen lösen sich für einen Moment vom Kuchen, starren keineswegs erschrocken, sondern wissend in die blauen seines Großvaters. „Bald.“
„Weil ich deine Medizin verschüttet habe?“ Es war ein Missgeschick gewesen, eines, das die Mutter sehr wütend gemacht hatte.
„Nein. Das mit dem Sterben ist niemandes Schuld. Es ist so, war immer so und wird auch so bleiben“, erklärt er ruhig, ausnahmsweise nicht vom Röcheln geplagt.
„Braucht Gott dich, so wie er Grandma und Paps gebraucht hat?“, will der Junge nun erfahren. Das Sterben war keine große Sache, obwohl es die Leute traurig macht, denn wer stirbt zieht bloß in den Himmel weiter und empfängt diejenigen, die später kommen. Der Gedanke daran, dass er dort eines Tages auf seinen Vater träffe, lässt Rhett erschaudern.
„Das glauben viele“, seufzt der gezeichnete Mann. Sein Stuhl knarrt, die Holzbeine machen ein kreischendes Geräusch, als sie über den Fußboden geschoben werden und der Großvater aufsteht. „Das glauben zu viele, mein Junge, zu viele. Der Himmel macht es ihnen einfacher.“

Orangenlimonade ist sein Lieblingsgetränk, es gibt sie meist nur zu fröhlichen Anlässen, wie seinem Geburtstag vor fünf Wochen. Aber Grampa hatte sich Orangenlimonade für seine Beerdigung gewünscht, deswegen schnitt die Mutter gerade die leuchtenden Früchte entzwei, quetschte ihnen den Saft aus, so wie der Saft aus Grampa gequetscht worden war. Der Husten war irgendwann nicht mehr weggegangen, die Luft knapper und knapper geworden, bis eines windstillen Morgens der letzte Atem aus Rhetts Großvater entwichen, er auf ewig verschwunden war.
„Er ist jetzt im Himmel, das weißt du, oder, Rhett?“ Er senkt den Kopf, sieht ihre besorgte Mine nicht. „Rhett?“ Sie trägt ein Kleid in Pechschwarz, es ist ihr drittschönstes, findet Rhett, es saugt alle Farben in sich auf. Der dunkle Schleier verdeckt ihre Augen, endet bei ihrer Nasenspitze, unter dem feinen Stoff und der Spitze verbirgt sie die Tränen.
„Ja, Ma. Grampa ist im Himmel bei Grandma Vivien und Paps.“ Es ist eine Lüge, keine schlimme, sondern eine, die es der Mutter einfacher macht, so wie der Großvater es ihm gesagt hatte.
„Genau, mein lieber Junge“, bringt sie hervor und stürzt sich danach regelrecht auf die Orange, deren Fruchtfleisch schmatzend auf der Presse zerreißt. „Genau. Im Himmel.“ Es war ein anderes Schluchzen als jenes, das sie von ihrem Ehemann befreit hatte, ein ehrliches, wehmütiges.
„Ma.“ Er legt seine schmächtige Hand auf die ihre, „Ma, der Himmel gehört Granma Vivien und Grampa“, und drückt sachte ihre Finger. „Weil wir mit Liebe im Herzen an sie denken.“ Sie schluckt, hört für einen Augenblick auf zu weinen. „Doch Pa“, knurrt der Bub mit fester Stimme, „Pa verrottet in der Erde.“ Eine Orangenhälfte fällt zu Boden.

Es war an einem kühlen Nachmittag gewesen, einem typischen Herbsttag in den Südstaaten, als ich das Geschenk meines Grampas an meine Ma weitergab. Sein Beisetzungstag, um genau zu sein. Wann immer ich mich daran erinnere, schmecke ich die selbstgemachte Orangenlimonade meiner Mutter, bittersüß verklebt sie meinen Rachen und der modrig schlammige Geruch der Mangrovenwälder steigt mir in die Nase. Der Morgen hatte spät begonnen, es war ein Freitag und wir waren vom Friedhof gekommen …

Autorin: Rahel
Titelvorgabe: Fünf Jahre und […]
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